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Titel
Außer Gefecht. Leben, Leiden und Sterben «kommunistischer» Gefangener in Vietnams amerikanischem Krieg


Autor(en)
Berni, Marcel
Erschienen
Hamburg 2020: Hamburger Edition, HIS Verlag
Anzahl Seiten
300 Seiten
Preis
€ 28.00 (DE); € 28.80 (AT)
von
Rüdiger Overmans

Ausgangspunkt der hier zu besprechenden Dissertation ist eine völlig zutreffende Feststellung: Das Schicksal der US-amerikanischen Kriegsgefangenen im nordvietnamesischen Gewahrsam wird schon seit den 1970er Jahren, also seit 50 Jahren erforscht, die reziproke Gruppe, die «kommunistischen» Gefangenen in der Hand der USA und der südvietnamesischen Regierung, ist bisher jedoch weitestgehend ignoriert worden. Schon der Wille des Autors, diese Lücke zu schliessen, verdient Achtung.

Der Berner Historiker Marcel Berni hat sich viel vorgenommen. Er will den Prozess der Entrechtlichung im Umgang mit den Kriegsgefangenen beschreiben und nach den Gründen für diese Entwicklung fragen. Dabei will er sowohl die Täter- als auch die Opferperspektive einnehmen und gleichzeitig die Sicht des Internationalen Roten Kreuzes berücksichtigen. Auch die gerichtliche Ahndung der Verbrechen gehört zum Programm seiner Studie.

Nachdem Verstösse gegen das Kriegsvölkerrecht im Zentrum der Arbeit stehen, ist es verständlich, dass Berni zunächst einmal einen Überblick über die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts bis zu den Genfer Konventionen von 1949 gibt. Kritisch ist hier allerdings anzumerken, dass er die beispielgebenden Urteile der Internationalen Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio unerwähnt lässt. Festzuhalten bleibt, dass sowohl die USA als auch Nord- und Südvietnam an die Regeln des Genfer Kriegsgefangenenabkommens von 1949 gebunden waren. Lediglich der Vietkong erklärte, sich nicht daran gebunden zu fühlen.

Insgesamt haben sich – die Zahlen sind mit grossen Unwägbarkeiten behaftet – ca. 35’000 bis 40’000 Soldaten und ca. 200’000 Zivilisten in US-, bzw. südvietnamesischer Gefangenschaft befunden. Dabei ist nicht nur die Zahl mit grossen Unsicherheiten behaftet, offen war oft auch der Status, also die Frage, wer als Soldat – und damit als Kriegsgefangener – anzusehen war. Für sie unterhielten die südvietnamesischen Streitkräfte sechs Lager, die USA besassen keine eigenen Einrichtungen. Personen, die nicht als Soldaten galten, wurden als «Civil Defendants» bezeichnet und in zivile Lager gesperrt, oft auch wenn sie sich offensichtlich nicht an Kampfhandlungen beteiligt hatten.

Die für die vorliegende Arbeit relevante Kriegsphase, in der die USA selbst am Bodenkrieg beteiligt waren, begann mit der Landung US-amerikanischer Bodentruppen bei Da Nang im Jahr 1965. In den Folgejahren nahm die Zahl von Kriegsverbrechen, insbesondere die willkürlichen Tötungen und die Folterung von Gefangenen, immer grösseren Umfang an, während gleichzeitig der Protest dagegen zunehmend nicht nur durch einzelne Journalisten, sondern auch seitens US-Politikern, die US-Öffentlichkeit erreichte. Auch das IKRK, das die Kriegsgefangenenlager ca. drei bis viermal pro Jahr besichtigte, protestierte gegen die dortigen Zustände. Als dann 1973 das Pariser Friedensabkommen geschlossen wurde, bedeutete dies die Freiheit für die US-amerikanischen Kriegsgefangenen im nordvietnamesischen Gewahrsam, über die vietnamesischen Kriegsgefangenen sagte das Abkommen nichts aus.

Zu Beginn des Krieges war den US-Streitkräften daran gelegen gewesen, das Kriegsvölkerrecht einzuhalten, wohl wissend, dass die südvietnamesischen Verbündeten sich nicht daranhielten. Berni vermutet, hier habe eine Rolle gespielt, dass rechtstaatliche Prinzipien in der vietnamesischen Gesellschaft nicht verankert gewesen seien. Doch die Amerikaner lernten von den Südvietnamesen – willkürliche Erschiessungen und Folterungen entwickelten sich zu einem «Normalverhalten». Berni breitet vor dem Leser ein Panorama von Fällen aus – schier uferlos. Kritisch ist hier allerdings anzumerken: Dieses Bild erscheint konturlos, Grausamkeiten allüberall. Eine solche Darstellung wird aber der Realität nicht gerecht, denn diese ist nie uniform, sondern weist Differenzen auf. Im Grunde ist dies auch dem Autor bewusst, denn er weist darauf hin, dass es positive Ausnahmen gegeben hätte, ohne sie allerdings in das Bild einzufügen. Hier nach Regionen, Kriegslagen oder Verbänden zu differenzieren, wäre verdienstvoll gewesen. Dieses Defizit erkennt der Autor an, sieht die Beantwortung dieser Frage jedoch als Thema einer weiteren Untersuchung.

Letztlich haben sich alle Akteure schuldig gemacht, auch wenn die Führung der US-Streitkräfte es an Versuchen, gegen die Grausamkeiten vorzugehen, nicht hat fehlen lassen. Es wurde eine Criminal Investigation Division aufgestellt, südvietnamesische Polizisten wurden in den USA ausgebildet, immer wieder wurden einschlägige Regeln erlassen. US-Soldaten, die sich nicht an Grausamkeiten beteiligten, gab es auch. Diesen gelang es aber nicht, andere davon abzuhalten – die Kultur der Grausamkeit war tief in den Feldverbänden verankert.

Ursachen hierfür macht Berni mehrere aus: Zum einen verweist er auf militärische Leistungsmassstäbe, wie «Body Count» und «Kill Ratio», die letztlich auf maximale Gewaltausübung abzielen. Eine weitere Ursache sieht er in der Qualität des Offizierskorps, das im Laufe des Krieges durch die Personalfluktuation kontinuierlich jünger und schlechter qualifiziert geworden sei. Nach Bernis Auffassung hätte es einer straffen, disziplinorientierten Führung bedurft, um die zunehmenden Grausamkeiten zu beenden. Genau dazu sei das Offizierskorps aber nicht in der Lage oder aber auch nicht willens gewesen.

In der Praxis wurden also Verbrechen geduldet; von daher verwundert es nicht, dass auch die Ahndung sehr zu wünschen übrigliess. Nur in 244 Fällen fanden überhaupt Ermittlungen statt, lediglich 30 Soldaten wurden erstinstanzlich verurteilt. Wie viele Urteile letztinstanzlich bestätig wurden, ist unbekannt.

Den Abschluss des Bandes bildet ein Epilog, der über den zeitlichen Rahmen der Untersuchung hinausgreift. Im Jahr 2014 veröffentlichte der US-Senat einen Bericht über die Folterpraktiken der CIA im «Krieg gegen den Terrorismus» in den Jahren 2001 bis 2006. Bermis Analyse dieses Berichts zeigt: Was die Anwendung von Folter betrifft, haben die USA aus dem Vietnam-Krieg nichts hinzugelernt Zu einem gewissen Grad lässt der vorliegende Band den Rezensenten allerdings ein bisschen ratlos zurück: In anderen Kriegen – beispielsweise im Zweiten Weltkrieg – galt das Reziprozitätsprinzip. Kriegsgefangene wurden von der Wehrmacht korrekt behandelt, wenn die Reichsregierung die deutschen Soldaten im Gewahrsam des jeweiligen Gegners kriegsvölkerrechtsgemäss behandelt wissen wollte. Im Osten hingegen waren weder Hitler noch Stalin gewillt, auf die eigenen Kriegsgefangenen im fremden Gewahrsam Rücksicht zu nehmen – mit den entsprechenden tödlichen Konsequenzen. Im Fall des Vietnamkriegs aber wollten die US-Regierung wie auch die amerikanische Gesellschaft als «die Guten» dastehen, das Schicksal der US-Kriegsgefangenen in Nordvietnam bewegte die US-Nation zutiefst. In einer solchen Fallkonstellation wäre eine peinlich genaue Beachtung des Kriegsvölkerrechts seitens der USA zu erwarten gewesen – genau das war aber nicht der Fall. Hier eröffnet die vorliegende Studie ein neues Forschungsfeld – weg von der Realität der Kriegsgefangenenbehandlung hin zu den politischen Prozessen.

Insgesamt hat Marcel Berni eine breit recherchierte Arbeit vorgelegt, die wesentlich zu Erforschung eines bisher vernachlässigten Themas beiträgt. Nicht verwunderlich ist, dass er dafür den André-Corvisier-Preis der internationalen Kommission für Militärge schichte erhalten hat. Eine weite Verbreitung ist seiner Publikation zu wünschen.

Zitierweise:
Overmans, Rüdiger: Rezension zu: Berni, Marcel: Ausser Gefecht. Leben, Leiden und Sterben «kommunistischer» Gefangener in Vietnams amerikanischem Krieg, Hamburg 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 183-185. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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